Das Thema
Aktuell wird Deutschland von der 4. Corona-Welle überrollt. Doch während die Infektionszahlen in ungeahnte Höhen schnellen und die Krankenhäuser an ihre Belastungsgrenze – und zum Teil bereits deutlich darüber hinaus – bringen, haben in vielen Unternehmen bereits die Vorbereitungen für die turnusgemäßen Betriebsratswahlen im Frühjahr des kommenden Jahres begonnen.
Den hierfür primär verantwortlichen Wahlvorständen sowie den Arbeitgebern stellt sich die Frage, wie diese Wahlen ordnungsgemäß durchgeführt werden können, ohne zugleich einen Hort für weitere Infektionen zu bilden. Schließlich gelten ab dieser Woche zumindest für die Bereiche, für die es möglich ist, die Homeoffice-Pflicht und darüber hinaus „3G“ am Arbeitsplatz. Dass das Virus bis zum Frühjahr des nächsten Jahres verschwunden sein wird, ist (leider) nicht zu erwarten.
Option 1: Durchführung digitaler Betriebsratswahlen?
Wie sich aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) und der (erst kürzlich überarbeiteten) Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz (WO BetrVG) ergibt, haben die Betriebsratswahlen grundsätzlich vor Ort, das heißt im Betrieb, stattzufinden. Gemäß dem mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz neu eingeführten § 30 Abs. 2 BetrVG kann die Teilnahme an Betriebsratssitzungen zwar unter bestimmten Voraussetzungen digital erfolgen. Auf Wahlen findet diese Vorschrift aber weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung.
Vielmehr regelt sie einzig und allein die Sitzungsteilnahme (vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 24.08.2020 – 12 TaBVGa 1015/20 zu § 129 BetrVG a. F.). Ausgehend hiervon ist die Durchführung einer vollständigen oder zumindest teilweisen Durchführung der Betriebsratswahlen in digitaler Form unzulässig und zumindest anfechtbar (LAG Hamburg v. 15.02.2018 – 8 TaBV 5/17).
In dem nunmehr veröffentlichten Koalitionsvertrag der designierten Ampel-Koalition ist zwar vorgesehen, dass im Rahmen eines Pilotprojekts die Durchführung einer digitalen Betriebsratswahl erprobt werden soll. Ob dieses Projekt noch rechtzeitig vor der Wahl im kommenden Frühling 2022 umgesetzt wird, bleibt aber abzuwarten.
Option 2: Dann Briefwahl für alle?
Viel diskutiert wird daher aktuell, ob die Betriebsratswahlen anstatt in Form der klassischen Urnenwahl mittels einer generellen Briefwahl („Briefwahl für alle“) durchgeführt werden können.
Zu beachten ist allerdings, dass die Durchführung von Briefwahlen nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, die in § 24 WO BetrVG geregelt sind: Sind Beschäftigte wegen Abwesenheit vom Betrieb verhindert, ihre Stimme persönlich abzugeben, können sie auf ihr Verlangen hin schriftlich wählen (§ 24 Abs. 1 WO BetrVG). Von Amts wegen erhalten solche Beschäftigten Briefwahlunterlagen, von denen der Wahlvorstand weiß, dass sie aufgrund der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses im Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (§ 24 Abs. 2 WO BetrVG).
Schließlich kann der Wahlvorstand für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, die schriftliche Stimmabgabe beschließen (§ 24 Abs. 3 WO BetrVG). Nach ganz herrschender Auffassung sind diese drei Fälle, in denen Briefwahlen zulässig sind, abschließend aufgezählt. Eine generelle Briefwahl ohne Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen ist mithin unzulässig (vgl. BAG v. 27.01.1993 – 7 ABR 37/92, zur Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat).
Keine Sonderregel für die Dauer der Corona-Pandemie
Eine Sonderregel für die Dauer der Pandemie, welche eine generelle Briefwahl ermöglichen würde, gibt es nicht. Die „bloße“ Reduzierung des Ansteckungsrisikos stellt für sich genommen ebenfalls in keiner der drei Fallgestaltungen des § 24 WO BetrVG einen Grund dar, der die Zulässigkeit einer Briefwahl begründen würde. Angesichts der ab dieser Woche wieder eingeführten Homeoffice-Pflicht für Bereiche, für die ein Tätigwerden im Homeoffice möglich ist, dürfte sich die Zulässigkeit von Briefwahlen im nächsten Frühjahr aber für viele Unternehmen aus § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG ergeben.
Wie bereits dargelegt, erhalten Beschäftigte, von denen der Wahlvorstand weiß, dass sie aufgrund der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses im Zeitpunkt der Wahl voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden, danach Briefwahlunterlagen von Amts wegen.
Was bedeutet das für die kommenden Betriebsratswahlen?
Im Einzelnen bedeutet dies für die kommenden Betriebsratswahlen Folgendes:
- Befinden sich sämtliche Beschäftigten im Homeoffice oder arbeiten mobil, kann die Betriebsratswahl auf dieser Grundlage als generelle Briefwahl durchgeführt werden und der Wahlvorstand allen Beschäftigten die Briefwahlunterlagen zusenden.
- Sind nicht sämtliche Beschäftigten, zumindest aber die ganz überwiegende Zahl im Homeoffice oder arbeiten mobil, während lediglich einzelne Beschäftigte noch im Betrieb tätig sind, ist es ebenfalls vertretbar, die Betriebsratswahl als generelle Briefwahl durchzuführen.
- Demgegenüber ist eine generelle Briefwahl ausgeschlossen, wenn sich zumindest wesentliche Teile der Belegschaft oder gar alle Beschäftigten zum Zeitpunkt der Wahl im Betrieb befinden und damit nicht wegen Abwesenheit vom Betrieb an der persönlichen Stimmabgabe „an der Urne“ verhindert sind. Die Sorge des Arbeitgebers, des Wahlvorstands oder der Beschäftigten vor Infektionen reicht in diesem Fall nicht aus, die Wahl als generelle Briefwahl durchzuführen.
- Ist eine generelle Briefwahl nicht möglich, ist indes in jedem Einzelfall zu prüfen, ob zumindest für einzelne Beschäftigte oder Beschäftigtengruppen die Voraussetzungen einer der drei Fallgestaltungen des § 24 WO BetrVG vorliegen.
Anfechtbarkeit genereller Briefwahl
Hat der Wahlvorstand die Briefwahl generell zugelassen, ohne dass die in § 24 WO BetrVG genannten Voraussetzungen vorliegen, kann die Wahl nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts in der genannten Entscheidung aus dem Jahr 1993 angefochten werden.
Denn zum einen handele es sich um einen Verstoß gegen eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren, zum anderen könne hierdurch auch das Wahlergebnis beeinflusst werden. Bei der schriftlichen Stimmabgabe im Rahmen der Briefwahl müssten sich die Wähler schließlich – so das Bundesarbeitsgericht – bereits vor dem eigentlichen Wahltag entscheiden, damit ihr Wahlbrief rechtzeitig beim Wahlvorstand eingehe. Dadurch komme es zu für die einzelnen Beschäftigten zeitlich versetzten Wahlen. Da zwischen der Stimmabgabe unter Umständen mehrere Tage liegen könnten, sei nicht auszuschließen, dass Beschäftigte anders gewählt hätten, wenn sie persönlich ihre Stimme abgegeben hätten.
Folgen für die Praxis
Im Ergebnis bietet das Betriebsverfassungsrecht keinerlei Möglichkeiten, von der Urnenwahl in Zeiten der Pandemie generell abzusehen, um das Infektionsrisiko zu senken. Nur dann, wenn die Beschäftigten vollständig oder zumindest der weitaus überwiegende Teil der Belegschaft im Homeoffice oder mobil arbeiten, ist eine generelle Briefwahl möglich.
Wichtig ist, dass Arbeitgeber und Wahlvorstand aber schon unter arbeitsschutzrechtlichen Gesichtspunkten gehalten sind, die Gegebenheiten vor Ort, d. h. insbesondere im Wahllokal und auf dem Weg dorthin, derart auszugestalten, dass die jeweiligen Infektionsschutzvorgaben eingehalten werden. Hierzu gehören zumindest in der Zeit bis zum 19. März 2022 unter anderem die Beachtung der Zutrittsbeschränkungen („3G“) und ein Hygienekonzept (Etablierung von Laufwegen, Begrenzungen der Personenzahl im Wahllokal, Einhaltung der AHA-L-Regelungen etc.).
Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass die Ampelkoalitionäre ihr angekündigtes Vorhaben eines Pilotprojekts zur digitalen Betriebsratswahl schnellstmöglich in die Tat umsetzen und damit alle Beteiligten aus der pandemischen Bredouille bringen.