Das Thema
2020 hat kaum eine Verfahrensnorm so an Popularität gewonnen wie § 128a ZPO – die Möglichkeit für das Gericht, Verfahrensbeteiligten zu gestatten, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten als in einem Sitzungszimmer. Viele Gerichtsverhandlungen finden inzwischen via Internet statt. Unter https://128a.de hat eine Cottbuser Kanzlei sogar ein Verzeichnis der aktuellen technischen Ausstattung der Gerichte sowie die Entscheidungspraxis und Erfahrungen der einzelnen Kammern/Abteilungen zur Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung angelegt.
Sönke Oltmanns ist Richter am ArbG Neumünster. Die #EFAR-Redaktion hat mit ihm über die aktuelle Situation gesprochen.
#EFAR: Herr Oltmanns, sind Online-Verhandlungen für Sie schon zur Routine geworden?
Oltmanns: Nein, die Standard-Verhandlungsform ist noch immer analog, also unter persönlicher Anwesenheit der Parteien bzw. Parteivertreter. Aber inzwischen sind die meisten Gerichte zumindest technisch in der Lage, Videoverhandlungen durchzuführen. Dazu wurden z.B. alle Arbeitsgerichte in Schleswig-Holstein mit USB-Kameras, Mikrofonen und Laptops ausgestattet. Die Tools für Videokonferenzen variieren in den verschiedenen Bundesländern stark, einige nutzen kommerzielle Anbieter wie Skype for Business oder Zoom, andere – wie wir in Schleswig-Holstein – greifen auf freie Software wie Jitsi Meet zurück. Ob diese neuen technischen Möglichkeiten in der Praxis auch tatsächlich genutzt werden, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Entscheidend sind – wie so häufig – die beteiligten Personen und deren Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen.
#EFAR: Nutzen auch die sogenannten „Naturalparteien“ (nicht anwaltliche vertretene Kläger/Beklagte) die Möglichkeit des § 128a ZPO? Und wenn ja, gibt es dann für Sie besondere Herausforderungen?
Oltmanns: Ja, auch das kommt vor. Nicht anwaltlich vertretene Parteien muss ich aber zuvor noch offensiver auf die Möglichkeit der Videoverhandlung hinweisen – das ist in der Form bei den meisten Anwälten nicht mehr erforderlich. Technisch kommen Naturalparteien nach meiner Erfahrung gut mit den Videokonferenz-Systemen zurecht. Allerdings sind Gerichtsverhandlungen gerade für die nicht anwaltlich vertretenen Klageparteien häufig neu und ungewohnt, so dass diese Personengruppe nach meiner Erfahrung im Zweifel doch lieber persönlich im Gericht erscheint.
#EFAR: Wenn eine Partei sich nicht zugeschaltet hat, (wie) stellen Sie dann sicher, dass das nicht nur daran liegt, dass es technische Probleme gibt (Stichwort: Versäumnisurteil)?
Oltmanns: Eine echte Säumnis in der Videoverhandlung hatte ich noch nie. Gerade wenn eine Partei von sich aus darum bittet, die Verhandlung online durchzuführen, wird sie sich auch zuschalten. Aber eine Säumnis-Situation ist natürlich auch bei Online-Verhandlungen denkbar. Zwar wird das Gericht die konkrete Ursache für ein Nichterscheinen während der Verhandlung nicht immer aufklären können. Wenn eine Partei aber schon den vom Gericht zur Verfügung gestellten Meeting-Raum nicht betritt, dürfte die Annahme durchaus gerechtfertigt sein, dass dies nicht an technischen Problemen liegt.
#EFAR: Gab es bei Ihnen schon Wiedereinsetzungsanträge, weil die Technik ausgefallen ist?
Oltmanns: Technische Probleme gibt es leider immer wieder: Häufig gibt es Rückkopplungen, manchmal ist der Ton sogar ganz weg und in einigen Fällen kommt keine Bildübertragung zustande. Dann heißt es improvisieren, etwa spontan einen neuen Meeting-Raum einrichten oder die Tonverbindung parallel mit einem auf Lautsprecher geschalteten Telefon sicherstellen. Die Kammervorsitzenden sollten da meines Erachtens großzügig sein und den Termin im Zweifel gem. § 337 ZPO vertagen. Dann bedarf es auch keiner Wiedereinsetzungsanträge.
#EFAR: Wie effektiv ist aus Ihrer persönlichen Sicht eine Zeugenbeweisaufnahme in einer Online-Verhandlung gegenüber einer in einem Gerichtssaal vor Ort?
Oltmanns: Der Gesetzgeber hat uns mit § 128a ZPO ein sehr umfassendes Instrument zur Verfügung gestellt, das sowohl in der arbeitsgerichtlichen Güte- als auch der Kammerverhandlung Anwendung findet. Aber nicht alles, was rechtlich zulässig ist, ist auch in der Praxis sinnvoll. Insbesondere dann, wenn der persönliche Eindruck entscheidend ist, stößt eine Videoverhandlung meines Erachtens an ihre Grenzen. Das gilt insbesondere für eine Zeugenvernehmung, aber auch für die in der arbeitsgerichtlichen Praxis wesentlich häufigeren Parteianhörungen. Die Inaugenscheinnahme eines Dokuments könnte dagegen unter Umständen auch in online-Verhandlungen sinnvoll sein. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an.
#EFAR: Werden Sie auch ohne Lockdown künftig weiterhin die Option anbieten, dass sich Verfahrensbeteiligte online zuschalten können?
Oltmanns: Ja. Auch wenn die arbeitsgerichtliche Spezialvorschrift des § 114 ArbGG zum 31.12.2020 ausgelaufen ist, wird die allgemeine Regelung des § 128a ZPO auch nach Corona Bestand haben. Und der Bedarf nach online-Verhandlungen ist nachhaltig, gerade im Arbeitsrecht, wo insbesondere Prozessbevollmächtigte der Arbeitgeberseite häufig eine weite Anreise haben. Ich werde jedenfalls auch künftig versuchen, meinen Teil zur Digitalisierung des Arbeitsgerichtsverfahrens beizutragen.