Das Thema
Das BAG hatte am 27.06.2019 (2 AZR 38/19) darüber zu entscheiden, ob abweichende Organisationsstrukturen gemäß § 3 BetrVG Auswirkungen auf den Kündigungsschutz von Amtsträgern haben.
Vereinbarte Organisationsstrukturen in der Betriebsverfassung
Das Gesetz zur Reform der Betriebsverfassung vom 23.07.2001 hatte den Betriebs- und insbesondere den Tarifvertragsparteien neue Möglichkeiten eingeräumt, die Betriebsratsstruktur abweichend vom gesetzlichen Regelmodell zu vereinbaren. Das Regelmodell sieht einen Gleichlauf von Betrieb und Betriebsrat vor: Der Betriebsrat ist nur zuständig für je einen Betrieb, eine „organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln“, mit deren Hilfe der Arbeitgeber „unter Einsatz von technischen und immateriellen Mitteln einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck“ verfolgt (fortgesetzt und nicht für den Eigenbedarf).
Dem sollte § 3 BetrVG abhelfen: Wo eine Organisation nach „produktbezogenen Geschäftsbereichen“ mit entsprechendem Leitungsapparat („Sparten“) etabliert ist, soll sich auch die Betriebsverfassung nach den Sparten richten. Damit soll insbesondere den Realitäten in der „Matrix“ genüge getan werden: Wo das Unternehmen einheitliche Entscheidungen trifft, sollen das auch die Betriebsräte können.
Gleichlauf von Betriebsverfassung und Kündigungsschutz?
Unklar war, ob die Ausweitung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstruktur über den herkömmlichen Betrieb hinaus zugleich auch einen Ausweitung des Kündigungsschutzes über diesen Rahmen hinaus bedeute. Geklagt hatte ein Ersatzmitglied des Betriebsrats. Der Kläger hatte kurz vor der Stilllegung seines in Berlin gelegenen Beschäftigungsbetriebes noch als Nachrücker an einer Betriebsratssitzung teilgenommen. Nachdem sein Beschäftigungsbetrieb (wohl) stillgelegt worden war und – unstreitig – keine geeigneten Arbeitsplätze im Unternehmen frei waren, hatte die Beklagte die Kündigung ausgesprochen.
Das Arbeitsgericht und das LAG Berlin hatten dem Kläger recht gegeben: Der „Gemeinschaftsbetrieb“ sei nicht insgesamt stillgelegt, die „Produktionsgemeinschaft“ bestehe fort. Die Stilllegung seines Beschäftigungsbetriebs in Berlin genüge deshalb nicht, die Kündigung des Betriebsratsmitglieds zu rechtfertigen.
BAG: Führungsvereinbarung und Organisationsstruktur statt Gemeinschaftsbetrieb und Produktionsgemeinschaft
Das BAG ließ das nicht gelten. Entgegen dem LAG tragen weder ein Gemeinschaftsbetrieb noch gar eine vom LAG sogenannte „Produktionsgemeinschaft“ zur Lösung des Falles bei. Die Wirkung des Strukturtarifvertrags erschöpfe sich darin, eine abweichende betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit zu errichten, eine „Produktionsgemeinschaft“ sei damit nicht bezweckt worden. Auch ein Gemeinschaftsbetrieb sei durch den Strukturtarifvertrag nicht begründet worden, dieser setze neben der Führungsvereinbarung vor allem eine vom Betrieb abweichende Organisationsstruktur, nämlich einen unternehmensübergreifenden einheitlichen Leitungsapparat voraus.
Entscheidend sei vielmehr zunächst, ob der Kläger (überhaupt) zum Ersatzmitglied eines auf Grund des Strukturtarifvertrags für die drei Betriebsstätten errichteten Betriebsrats gewählt worden sei (oder etwa nur für den Betrieb in Berlin). Das LAG hatte dazu keine Feststellungen getroffen, ebenso nicht abschließend zur Stilllegung des Beschäftigungsbetriebs.
Kündigungsschutz bei abweichender Betriebsratsstruktur hängt am Beschäftigungsbetrieb
Vor allem aber – und das ist die Kernaussage des Urteils – kommt es für das Vorliegen einer Betriebsstillegung im Sinne des § 15 Abs. 4 KSchG ausschließlich auf die Stilllegung des Beschäftigungsbetriebs an. Das gilt (unproblematisch) dann, wenn der Kläger als Ersatzmitglied für den lokalen Betriebsrat gewählt worden war. Das gilt aber auch dann, wenn der Kläger Ersatzmitglied des unternehmensübergreifenden Struktur-Betriebsrats gewesen sei.
Das BAG holt weit aus, um diese Aussage zu belegen. Im Wesentlichen:
- Hätte der Gesetzgeber einen abweichenden kündigungsrechtlichen Betriebsbegriff definieren wollen, hätte er das ausdrücklich angeordnet. Die Fiktion des § 3 Abs. 5 S. 1 BetrVG – die abweichenden Organisationseinheiten „gelten“ als Betriebe – beschränkt sich auf das BetrVG („im Sinne dieses Gesetzes“).
- Auch § 3 Abs. 5 S. 2 BetrVG betreffe nur die persönliche Rechtsstellung des Betriebsratsmitglieds nach der Betriebsverfassung.
- Ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung aber könne der Kündigungsschutz nicht die Grenzen der „Risikogemeinschaft“ Betrieb erweitern. Nur innerhalb eines Betriebes sei eine Verdrängung durch andere Arbeitnehmer hinzunehmen. Das betrifft vor allem die Sozialauswahl des § 1 Abs. 3 KSchG. Jede weitere Verdrängung bedürfe der ausdrücklichen Anordnung, die § 3 BetrVG gerade nicht treffe, anders als die (im Streitfall nicht einschlägige) Ausnahmevorschrift des § 15 Abs. 5 S. 1 KSchG: Bei Stilllegung einer Betriebsabteilung könne der dort beschäftigte Betriebsrat verlangen, auf einem anderen (besetzten) Arbeitsplatz in einer anderen Betriebsabteilung beschäftigt zu werden.
- Es sei auch nicht erforderlich, den Betriebsrat bei einer Betriebsstillegung besonders zu schützen. Diese sei „in der Regel unverdächtig“ – man schließe einen Betrieb jedenfalls nicht nur deshalb, um sich von unbequemen Amtsträgern zu trennen.
Bedeutung für die Praxis: Verdrängungseffekt des Kündigungsschutzes bleibt auf „Risikogemeinschaft Betrieb“ beschränkt
Das BAG zieht mit klarem Federstrich dogmatische Grenzen: Der allgemeine Betriebsbegriff findet in der Betriebsverfassung so lange Anwendung, wie nichts anderes (gesetzlich) angeordnet ist. Das ist zum einen dogmatisch konsequent, wäre es doch sonst immer ein Deal zu Lasten Dritter, die durch den Betriebsrat verdrängt würden. Es ist auch mit Blick auf den Zweck der Betriebsverfassung konsequent: Der Betriebsrat hat sein Amt wegen seines Vertrags im Beschäftigungsbetrieb. Geht dieser unter, gibt es keine (weitere) sachliche Notwendigkeit für die Amtsausübung. Erst recht gibt es dann keine Notwendigkeit, einen anderen Arbeitnehmer in einem „fremden“ Betrieb zu verdrängen.
Die Praxis kann hiermit gut arbeiten. Im Falle der Betriebsstilllegung sind die Folgen in der Regel beschränkt auf die dort beschäftigten Mitarbeiter. Weitere Grenzen sind nur zu ziehen, wenn der Betrieb (oder ein Teil) veräußert werden – dann liegt eben insoweit keine Betriebsstilllegung vor – oder wenn ein Gemeinschaftsbetrieb mehrerer Unternehmen vorliegt.
Der aber bedarf der Führungsvereinbarung und der organisatorischen Leitungsstruktur und ist insofern ebenfalls der praktischen Gestaltung zugänglich. Solange aber all diese Ausnahmen nicht vorliegen, bleibt der Verdrängungseffekt des Kündigungsschutzes auf die „Risikogemeinschaft Betrieb“ beschränkt – auch wenn dessen Grenzen betriebsverfassungsrechtlich abweichend gezogen wurden.