Klares Ziel der Bundesregierung, besser gesagt eines Teils der Bundesregierung, namentlich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, oder besser gesagt dessen Leitung, hat unmissverständlich die Stärkung der Tarifbindung auf die Agenda gesetzt. Spätestens das „Weißbuch Arbeiten 4.0“ lässt daran keinerlei Zweifel. In diesem Zusammenhang sieht deren Programm vor, „Anreize“ zu schaffen, mit der die Tarifbindung erhöht wird. Ist die negative Koalitionsfreiheit in Gefahr?
Das Thema
Tatsächlich gibt es diese „Anreize“ bereits sehr lange, insbesondere im Arbeitszeitgesetz; aber auch die Kündigungsfristen im BGB, die mögliche Verlängerung der Höchstbefristungsdauer im Teilzeit- und Befristungsgesetz und die Gestaltung betrieblicher Gremien in § 3 BetrVG gehören dazu. Aus Sicht der Gewerkschaften und der Bundesregierung zählt ebenso die Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu solchen Instrumenten.
Die Tarifpartner nehmen, das lässt sich auch festhalten, eine Reihe dieser gesetzlichen Öffnungs- oder Gestaltungsklauseln an. Bei Weitem sind wir in Deutschland dabei gedanklich nicht soweit wie im europäischen Sozialpartnerdialog, nachdem (eigentlich) der Gesetzgeber erst auf den Plan gerufen werden soll, soweit die Sozialpartner keine Einigung zu finden in der Lage sind.
Die Thematik wird kontrovers diskutiert. Kontrovers in zweierlei Hinsicht: einmal, dass tarifliche Öffnungsklauseln die negative Koalitionsfreiheit aushöhlten, da um bestimmte Regelungen arbeitsvertraglich zu gestalten künftig noch stärker ein Zwang zur Mitgliedschaft bestehe – eben um die Öffnungsklauseln nutzen zu können; zum Anderen wird bezweifelt dass diese Öffnungsklauseln tatsächlich den Tarifparteien nützten.
Vermutlich ist an allen Positionen „etwas dran“. Ich zum Beispiel verstehe nicht, wie eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung den Gewerkschaften Zulauf bringen sollte – im Gegenteil ist es sogar eher eine staatliche Förderung der von den Gewerkschaften gerne „Trittbrettfahrerschaft“ genannten Situation.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände benötigen die Schützenhilfe des Gesetzes häufig gerade nicht
Da ist es schon naheliegender anzunehmen, dass die Nutzung gesetzlicher Öffnungsklauseln für zB. geänderte Kündigungsfristen und Arbeitszeiten den Tarifparteien neue Mitglieder zuführen. Aber auch das ist vermutlich so nicht richtig. Der Marx´schen Dialektik gemäß scheint die Nutzung einer gesetzlichen Öffnungsklausel jeweils nur einer (Tarif-)Partei als Vorteil, der anderen notgedrungen das Gegenteil, also ein Nachteil. Die Verkürzung von Kündigungsfristen etwa scheint dem Arbeitgeber (vordergründig) als Vorteil, dem Arbeitnehmer also als Nachteil. Das bedeutet zunächst einmal: gesetzliche Öffnungsklauseln hin oder her, die Möglichkeit der Nutzung und Ausgestaltung ist ein anderes Buch, mit nota bene erheblichen Transaktionsaufwänden. Weder wird ein „schwacher“ Arbeitgeberverband, der jedes Gewerkschaftsdiktat unterschreiben muss, noch vice versa eine schwache Gewerkschaft, die sich dem Arbeitgeber(verbands)-Diktat beugen müsste, Mitglieder gewinnen. Denkbar ist das nur „im Paket“ – eine von vornherein starke Gewerkschaft verhandelt auf Augenhöhe mit einem starken Arbeitgeber(Verband). Nur so entstehen ausgewogene Pakete, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer attraktiv sein können, als ausgewogene Gesamtpakete. Nur: diese Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände benötigen die Schützenhilfe des Gesetzes häufig ja gerade nicht.
Nun können zwei Parteien ihr Leid klagen, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber. Soweit Arbeitgeber meinen, die Koalitionsfreiheit sei in Gefahr, werden sie sich vorhalten lassen müssen dass sie nach dem TVG selbst tariffähig sind und also keinerlei Nachteile aus einer gesetzlichen „Tariffördeung“ erleiden könnten. Anders schon eher bei den Arbeitnehmern; dieser Aspekt ist aber zweischneidig zu betrachten: tarifgebundene Arbeitgeber bieten zu allermeist nur Arbeitsverträge mit Gleichstellungsklauseln an, also sind sie es die die Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers einschränken; andererseits: im war for talents kann sich manch ein Arbeitnehmer bereits heute auswählen, ob er in einen Betrieb mit oder ohne Tarifbindung anheuern möchte.
Also: keine Bedrohung der negativen Koalitionsfreiheit?
Nun, geht man vom Grundmodell eines frei verhandelbaren Arbeitsverhältnisses aus, mag dies wieder sehr differenziert gesehen werden. Stehen wir vor einer niedrigen gesetzlichen Regelungsdichte, wie etwa vor 100 Jahren, bleibt selbst unter Bestand einer Vielzahl tariflicher Regelungen noch hinreichend Raum für jeden Arbeitnehmer individuelle Regelungen auszuhandeln. Nimmt aber die gesetzliche Regelungsdichte zu – und wie wir beobachten können leider immer mehr – und nur innerhalb „an sich“ gesetzlich geregelter Bedingungen besteht tariflicher Spielraum, reduziert sich schon das Potential individueller Aushandlungen gegen Null. Die Einenn nennen das dann Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit, ich nenne das Bevormundung mündiger Menschen.
Bedeutet: wir brauchen gesetzliche Deregulierung. Je mehr Deregulierung, desto mehr entstehen Freiräume für kollektive Verhandlungen – sowohl der Tarifpartner wie auch nota bene im Rahmen des § 87 BetrVG (wenn man den doppelten Sperrvorbehalt aus §§ 77, 87 BetrVG. beachten mag) für die Betriebsparteien als auch selbstverständlich für die Arbeitnehmer. Das steigert die Attraktivität, wie ich glaube, der Tarifpartner, der Betriebspartner, und richtig angewandt der Arbeitgeber für die Arbeitnehmer. Ich glaube, das brauchen wir auch im Sinne der Rechtssicherheit; denn dass bei weiter zunehmender Regelungsdichte und weiter zunehmender Eröffnung tariflicher Abweichungen vielleicht tatsächlich einmal die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit konstatiert werden müsste – ich möchte mir das Desaster hernach nicht vorstellen.
“Allein die Dosis macht’s…”
Vielleicht ist es, wie es Paracelsus schon um 1520 meinte: „allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei“. Das mag dem Expansionsdruck des BMAS auf dem Weg in noch höhere Regelungsdichte und dem scheinbar vom BMAS dazu als zugehörig scheinenden Notwendigkeit der Öffnungsklauseln mitgegeben sein. Und: ohne das Eine, ist das andere nicht nötig, wo kein Gesetz, da keine Öffnungsklausel nötig.
[Mit freundlicher Zustimmung des Betriebs-Berater, in dessen Ausgabe vom 17. Juli 2017 dieser Text in leicht abgewandelter Form als Editorial erscheint.]