Das Thema
Die Auswirkungen der pandemischen Lage und der öffentliche Shutdown betreffen auch die Arbeitsgerichte, bei denen derzeit nahezu keine mündlichen Verhandlungen mehr stattfinden. Kritik hieran ist bereits verschiedentlich geäußert worden und mündete in einem Eckpunktepapier mit Reformvorschlägen aus der Arbeitsgerichtsbarkeit – das #EFAR berichtete exklusiv.
Einen Teil dieser Ideen greift der Gesetzgeber nunmehr auf: Ein Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie“ liegt nunmehr vor.
Neben der Einführung von Online-Verhandlungen soll auch die Frist für Kündigungsschutzklagen von drei auf fünf Wochen verlängert werden.
Derzeitiger Stand: Ruhen des Sitzungsbetriebs
Arbeitsgerichtsverhandlungen finden derzeit über alle Instanzen nahezu ausnahmslos nicht mehr statt. Neu eingehende Verfahren werden erfasst und die Klagen zwar zugestellt, die Prozesse werden momentan aber nicht wirklich gefördert. Dies ist bereits auch deswegen nicht möglich, da nach dem geltenden Recht dem Mündlichkeitsprinzip in der Arbeitsgerichtsbarkeit besondere Bedeutung zukommt.
So finden in der ersten Instanz gem. § 54 Abs. 1 Satz 1, § 61a Abs. 2 ArbGG regelmäßig gesonderte Güteverhandlungen statt; ein schriftliches Vorverfahren (§ 276 ZPO) gibt es dagegen nicht. In den Kündigungsschutzverfahren, die in der gerichtlichen Praxis mit Abstand der häufigste Streitgegenstand sind, gilt eine besondere Prozessförderungspflicht. Güteverhandlungen sollen hier gem. § 61a Abs. 2 ArbGG schon innerhalb von zwei Wochen nach Klageeingang stattfinden.
Auch faktisch führt diese verfahrensrechtliche Betonung des Mündlichkeitsprinzips im Urteilsverfahren dazu, dass ca. 2/3 aller arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten bereits in der Güteverhandlung oder in unmittelbarem Anschluss hieran durch Vergleich erledigt werden. Möglichkeiten, den Rechtsstreit im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, stehen den Arbeitsgerichten dagegen nach derzeit geltendem Recht (§ 46 Abs. 2 S. 2 ArbGG) nicht zur Verfügung – auch nicht mit Einverständnis der Parteien. Denkbare Handlungsoptionen und erste Überlegungen zur Verfahrensförderung ohne „klassische“ mündliche Verhandlung, die aus Gründen des Justizgewährleistungsanspruchs notwendig sind, wurden aus der Arbeitsgerichtsbarkeit selbst mit einem Eckpunktepapier und einem konkreten Formulierungsvorschlag an den Gesetzgeber herangetragen.
Der (neue) Referentenentwurf zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit
Seit kurzem kursiert nun aber auch ein als „Referentenentwurf der Bundesregierung“ bezeichneter Gesetzesentwurf für ein „Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG)“, der aus Ministeriumskreisen stammen soll und sich in der weiteren Abstimmung – wohl bis zum 17. April 2020 – befindet. Der DGB hatte bereits zum o.g. Eckpunktepapier Stellung bezogen.
Nach der entsprechenden Entwurfsbegründung spielten die Prinzipien der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit insbesondere vor Arbeits- und Sozialgerichten eine besondere Rolle. Die Verfahrensordnungen sähen zwar bereits Möglichkeiten der partiellen Verhandlung per Videoschalte vor (§§ 46 Abs. 2, 128a Abs. 2 ZPO), allerdings sei eine entsprechende Ausweitung derartiger Formen notwendig, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege im Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit während der Zeit der Epidemie nicht zu gefährden.
Einzelne Inhalte des Entwurfs
Wird der Referentenentwurf der Bundesregierung umgesetzt, stehen dem arbeitsgerichtlichen Verfahrensrecht große Änderungen bevor. Diese werden in Form eines Artikelgesetzes durch Änderungen im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), dem Sozialgerichtsgesetz (SGG), dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG), dem Tarifvertragsgesetz (TVG), dem Mindestlohngesetz (MiLoG) und dem Heimarbeitsgesetz (HAG) umgesetzt.
Wesentliche Änderungen nach dem Entwurf sind:
Zuschaltung von ehrenamtliche Richtern
In das Arbeitsgerichtsgesetz soll ein neuer § 114 ArbGG n.F. eingefügt werden. Nach dessen Absatz 1 S. 1 können bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite – wie sie derzeit besteht – die ehrenamtlichen Richter an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beiwohnen. Sie nehmen an der Verhandlung dann durch eine zeitgleiche Übertragung in Bild und Ton teil. Auf diese Weise soll auch die Abstimmung und Beratung erfolgen, wobei durch eine entsprechende Protokollierung festzuhalten ist, dass organisatorische Maßnahmen zur Gewährleistung des Beratungsgeheimnisses getroffen worden.
Das Homeoffice wäre damit auch für ehrenamtliche Richter eingeführt. Inwieweit das Gericht auch technisch „sichere“ Lösungen treffen muss, ist im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen. Die Gewährleistung einer entsprechend sicheren Übertragung wird aber allein zur Wahrung des Beratungsgeheimnisses notwendig sein. Eine vergleichbare ausdrückliche Regelung findet sich etwa auch im Gesetzesentwurf zur Ermöglichung virtueller Beschlussfassungen für Betriebsräte (§ 129 BetrVG-Entwurf, Ausschussdrucksache 19(11)581 v. 9.4.2020 des Ausschusses für Arbeit und Soziales), wonach diese sicherzustellen haben, dass „Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können”. Was für Betriebsräte gilt, sollte erst recht für Gerichtsentscheidungen gelten.
Parteien, Anwälte und Zeugen an anderem Ort
Gem. § 114 Abs. 2 ArbGG-Entwurf sollen die Arbeitsgerichte abweichend von § 128a ZPO auch anordnen dürfen, dass „die Parteien, ihre Bevollmächtigten und Beistände sowie Zeugen und Sachverständige an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilnehmen, sofern diese die technischen Voraussetzungen für die Bild- und Tonübertragung in zumutbarer Weise vorhalten können“. Immerhin: Gegen die Entscheidung des Gerichts ist die sofortige Beschwerde möglich.
Das Gericht erhält also die Befugnis, eine Videoverhandlung anzuberaumen. Den Beteiligten wird zuvor rechtliches Gehör zu gewähren sein, um etwaige Hinderungsgründe einer Videoverhandlung geltend zu machen. Ob und inwieweit sich Anwälte hier unter Verweis auf fehlende technische Möglichkeiten dem erfolgreich entziehen können, ist fraglich. Und ob ein instabiles W-LAN in der Verhandlung ein Versäumnisurteil rechtfertigen kann, werden die Gerichte dann wohl ebenfalls demnächst klären müssen.
Ausschluss der Öffentlichkeit
Zudem darf gem. § 114 Abs. 3 ArbGG-Entwurf die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn infolge einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite der erforderliche Gesundheitsschutz nicht zu gewährleisten ist.
Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ist ein extrem hohes Gut. Insoweit wird der vollständige Ausschluss durch ein Gericht nur dann erfolgen dürfen, wenn durch sitzungspolizeiliche Maßnahmen eine Beschränkung der Öffentlichkeit nicht möglich ist. Ein vollständiger Ausschluss wird daher nur nach sorgfältiger Abwägung des Gerichts möglich sein. Ob zudem besondere Ausnahmen für Presseberichterstatter gelten müssen, wird das Gericht ebenfalls im Rahmen einer begründeten Entscheidung zu entscheiden haben.
Besonderheit: Bundesarbeitsgericht
Das Bundesarbeitsgericht, das zudem ausschließlich über Rechtsfragen entscheidet, darf nach § 114 Abs. 5 ArbGG-Entwurf überdies nach vorheriger Anhörung der Parteien auch ohne deren Zustimmung eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen. Die Verkündung der Entscheidung wird in diesem Fall durch die Zustellung des Urteils ersetzt.
Nach der Neufassung müssen sich die Berufsrichter des Senats aber weiterhin vor Ort befinden, lediglich eine Zuschaltung der ehrenamtlichen Richter, für die auch in diesem Fall die Vorschrift des § 114 Abs. 1 ArbGG-Entwurf gilt, dürften zugeschaltet werden.
Verlängerung der Klagfrist für Kündigungsschutzklagen
Auch das KSchG soll eine Änderung erfahren. Durch die Einfügung eines neuen § 25a KSchG soll die Klagefrist bei epidemischen Lage von nationaler Tragweite von bislang drei Wochen auf fünf Wochen verlängert werden. Die Regelung des § 4 S. 1 KSchG wird damit also nahezu verdoppelt.
Die Begründung des Entwurfes führt dazu aus, dass sich die bei epidemischen Lagen eintretenden Einschränkungen die dreiwöchige Frist für die Rechtsdurchsetzung des Arbeitnehmers als nicht angemessen erweisen könne, zumal ein Versäumen der Klagefrist den Arbeitnehmer wegen der Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG „besonders empfindlich“ träfe. Einer solch pauschalen Verlängerung hätte es ebenfalls nicht zwingend bedurft. Zum einen dürften Kündigungsschutzverfahren aufgrund der derzeitigen Einschränkungen im Gerichtsbetrieb zeitlich verlängert werden, so dass die besondere Prozessförderungspflicht bei Bestandsstreitigkeiten gem. § 61a ArbGG ohnehin arg strapaziert wird. Zum anderen ist auch nach den geltenden Ausgangsbeschränkungen ein zwingend notwendiger Besuch beim Anwalt weiterhin möglich. Schließlich gibt auch § 5 KSchG bereits derzeit die Möglichkeit, eine verspätete Klage zuzulassen, wenn der Arbeitnehmer trotz „Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert (war), die Klage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung zu erheben“.
Die “Online-Courts” kommen
Die Arbeitsgerichte sollen kurzfristig zu Corona-resistenten „Online-Courts“ werden. Zwar ist geplant, die Änderungen im ArbGG, im SGG und im KSchG gem. Art. 8 Abs. 3 des Gesetzesentwurfs bis zum 31.12.2020 zu befristen.
Sofern sich die Regelungen aber in der Praxis bewähren, dürften die Rufe nach einer nachhaltigen digitalen Justiz unabhängig von der COVID-19 bedingten Situation lauter werden.