Das Thema
Mit der breiten Mehrheit fast aller Fraktionen hat der Bundestag am 20.04.2023 den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (20/5652) gebilligt. Das Gesetz wurde am 30.05.2023 verkündet und ist am 31.05.2023 in Kraft getreten.
100 Jahre nach der Gründung der ILO wurde das 190. Übereinkommen am 21.06.2019 von der allgemeinen Konferenz angenommen. Nun wird ihm der Stand eines deutschen Bundesgesetzes verliehen. Das Übereinkommen wird als weltweit erstes seiner Art bezeichnet, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie anderen Personen in der Arbeitswelt weitreichenden Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt bietet (ausführlich zu dem ILO-Übereinkommen siehe den EFAR-Beitrag „Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz: Weltweite Standards zur Prävention und Beseitigung festgelegt“).
Hohe Praxisrelevanz
In der Beratungspraxis zeigt sich das Thema sexuelle Selbstbestimmung in unterschiedlichen Facetten. Grenzüberschreitungen erstrecken sich von verbalen Äußerungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Die Grenzüberschreitungen finden auf unterschiedlichen Ebenen und zwischen allen Geschlechtern statt. Auch Gruppenkonstellationen sind zu verzeichnen. Sexuelle Belästigung kann von einer Gruppe ausgehen und nur Einzelne betreffen. Umgekehrt kann auch eine einzelne Person mehrere Menschen gleichzeitig belästigen.
Auch die #MeToo Kampagne machte das Ausmaß sexueller Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz, hier insbesondere in der Filmbranche, deutlich. Die Time hat 2017 „The Silence Breakers“ als Person of the Year ausgewählt und damit all die Frauen und Männer, die in der #MeToo-Bewegung ihr Schweigen gebrochen haben, mitgewürdigt. Die damalige Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, begrüßte die Entscheidung öffentlich.
Nicht nur unter Prominenten der Filmbranche finden sexuelle Grenzüberschreitungen statt, auch am Arbeitsplatz vieler Unternehmen findet sich die Thematik. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes stellte in einer Studie 2019 fest, dass jede elfte erwerbstätige Person in den vergangenen drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hat. Frauen waren mehr als doppelt so häufig wie Männer betroffen. Am häufigsten erleben Frauen sexuelle Belästigung durch Kollegen auf der gleichen Hierarchiestufe, aber auch durch Vorgesetzte und Kunden.
Insbesondere wenn sexuelle Grenzüberschreitungen mit einem Machtverhältnis einhergehen, stellt sich die Situation für die Betroffenen als sehr belastend dar. Dana Hardt kennt diese Szenarien aus ihrer Beratungspraxis, z.B. der erlebte Fall einer Assistentin, die regelmäßig nachmittags von ihrem Vorgesetzten „Besuch“ bekam und dieser sich dann von hinten anschlich und ihr unter ihr T-Shirt griff. Ebenso wie ein erlebter Fall in einer Arztpraxis, in der einer der praktizierenden Ärzte über Jahre hinweg Untersuchungen vornahm, die nichts mit den vorgetragenen Beschwerden der Patienten zu tun hatten und eine massive sexuelle Grenzverletzung darstellten oder der Fall einer Seminarleitung, die bei einem Kunden vor versammelter Runde von mehreren Männern aufgefordert wurde, ihr Oberteil auszuziehen. In solchen Konstellationen, in denen es um Macht und Abhängigkeit geht, entsteht häufig ein Ohnmachtsgefühl des Opfers, aus dem es oft alleine schwerfällt, einen Ausweg zu finden.
Gleichzeitig gibt es auch immer wieder Anschuldigungen gegenüber Kollegen oder Vorgesetzten, deren Wahrheitsgehalt sich bei akribischer Befragung aller Beteiligten als gering herausstellt. Und genau in diesem Spannungsfeld bewegen sich Arbeitgeber. Unternehmen und die öffentliche Verwaltung sind daher gut beraten, zu dieser Thematik professionell und zielgerichtet aufzuklären und konstruktive Handlungsempfehlungen und Anlaufstellen für Betroffene und Führungskräfte zur Verfügung zu stellen.
Die gesetzliche Definition einer sexuellen Belästigung
Die sexuelle Selbstbestimmung am Arbeitsplatz umfasst das Recht, über seine eigene Sexualität frei zu bestimmen und vor Übergriffen oder Sexualdelikten Schutz durch Bestimmungen über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu finden.
Am Arbeitsplatz äußern sich Einschränkungen des sexuellen Selbststimmungsrechts meist in Form der sexuellen Belästigung. § 3 Abs. 4 AGG definiert die sexuelle Belästigung als unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, welches bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Dies ist nach der Legaldefinition insbesondere dann der Fall, wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.
Unter diese Definition fallen daher nicht nur sexuelle Handlungen und Verhaltensweisen, die nach den strafgesetzlichen Vorschriften unter Strafe gestellt sind, sondern auch sonstige sexuelle Handlungen, Aufforderungen und Verhaltensweisen, die von den Betroffenen erkennbar abgelehnt werden. Dabei können grundsätzlich drei Arten von Belästigung unterschieden werden: verbale, non-verbale und physische Belästigung.
Die gesetzliche Definition verdeutlicht bereits, dass sexuelle Belästigung nicht erst bei physischer Belästigung beginnt. Vor allem verbale und non-verbale Belästigung werden im Alltag immer wieder verharmlost.
Welche Schutzpflichten treffen den Arbeitgeber?
Arbeitgeber sind nicht erst seit der Ratifikation des ILO Übereinkommens Nr. 190 verpflichtet, vorsorgende Maßnahmen zum Schutz ihrer Arbeitnehmenden zu treffen sowie im Einzelfall ihrer Aufklärungs- und Fürsorgepflicht nachzukommen. Der Grundsatz ist bereits in § 75 BetrVG sowie in § 17 AGG verankert.
Zudem ist in § 12 AGG ausdrücklich geregelt, dass der Arbeitgeber in geeigneter Art und Weise, das heißt insbesondere im Rahmen der beruflichen Aus- und Fortbildung, auf die Unzulässigkeit von sexuellen Belästigungen hinweisen und darauf hinwirken muss, dass diese unterbleiben. Auch muss er angemessene Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden treffen. Dazu gehört auch, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das sexuellen Belästigungen entgegenwirkt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, sexuelle Belästigung zu verhindern, einerseits durch Prävention und andererseits durch Maßnahmen und Sanktionen im Einzelfall.
Zugleich ist es Aufgabe des Arbeitgebers, eine Beschwerdestelle zu schaffen, an welche sich die Mitarbeitenden wenden können. Die Bestimmung der Meldestelle fällt dabei in die Organisationshoheit des Arbeitgebers. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats können aber bei der Ausgestaltung des Beschwerdeverfahrens bestehen (ErfK/Schlachter, 23. Aufl. 2023, AGG § 13 Rn. 1-3 m.w.N.). Die betriebliche Beschwerdestelle muss gem. § 12 Abs. 5 AGG im Betrieb bekannt gegeben werden. Sie kann auch auf Unternehmensebene, nicht aber auf Konzernebene angesiedelt sein. Es kann sich in der Praxis um einen Gleichstellungsbeauftragten, einen Vorgesetzten oder sogar um den Betriebsrat handeln (str., vgl. Oetker NZA 2008, 264, 267 m.w.N.). Jedenfalls aber sollte der Arbeitgeber auf einen niederschwelligen Zugang sowie auf die Vermeidung persönlicher oder organisatorischer Interessenkonflikte achten. Interessenkonflikte können insbesondere dann entstehen, wenn die Beschwerdestelle beim Betriebsrat, dem Gleichstellungs- oder beim Schwerbehindertenbeauftragten angesiedelt wird, denn die Beschwerdestelle übernimmt Arbeitgeberfunktion mit der Prüfung sowie bei der Ergebnismitteilung. Sie handelt möglichst objektiv und nach eigenem Ermessen. Hier kann bspw. dann ein Interessenkonflikt zur Betriebsratsarbeit bestehen, wenn arbeitsrechtliche Sanktionen aus der Beschwerde abgeleitet werden. Daher wird ausdrücklich empfohlen, die Beschwerdestelle nicht beim Betriebsrat anzusiedeln.
Hinweisgeber, Ermittlungen und Maßnahmen
Das Hinweisgeberschutzgesetz, welches am 02.07.2023 in Kraft treten wird, sieht hingegen keinen (ausreichenden) Schutz bei Meldungen von Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung vor. Diese fallen (nur) dann in den Anwendungsbereich des Gesetzes, wenn es bei einem beruflichen Kontakt zu einer Straftat gekommen ist. Diese Hürde dürfte sehr hoch sein.
In jedem Fall trifft den Arbeitgeber eine Prüfungs- und Ermittlungspflicht, wenn eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung an ihn herangetragen wird. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber den Sachverhalt mit sämtlichen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, aufzuklären hat. Das Ergebnis der Prüfung ist dem Beschwerdeführer mit Begründung mitzuteilen.
Dem Arbeitgeber kommt beim Umgang mit sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz ein Ermessenspielraum zu. Das AGG verlangt lediglich, dass geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen ergriffen werden. Die Handlungsoptionen reichen von Prävention bis hin zu Ermahnung, Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung als Repression im Einzelfall (§ 12 Abs.3 AGG). Es obliegt dem Arbeitgeber, in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, welche Maßnahme gerechtfertigt ist.
(Verdachts-)Kündigung
Der Vorwurf der sexuellen Belästigung kann bis hin zu einer (Verdachts-)Kündigung führen. Eine wirksame Verdachtskündigung erfordert starke, auf objektiven Tatsachen begründete Verdachtsmomente. Diese müssen vom Arbeitgeber dargelegt und ggf. bewiesen werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist zudem in jedem Fall eine Anhörung der beschuldigten Person erforderlich, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern und den Verdacht zu entkräften. Eine Verdachtsanhörung sollte dabei selbst dann durchgeführt werden, wenn der Sachverhalt zunächst eindeutig und klar erscheint. Auch sollten weitere Zeugenaussagen eingeholt und weitere Beweismittel – wie Nachrichtenverläufe – soweit möglich gesichtet werden. Nicht selten stellt sich die Situation bei Auswertung aller zur Verfügung stehenden Beweismittel anders dar als zunächst angenommen. Der Arbeitgeber schuldet hier hierbei allen betroffenen Arbeitnehmenden (dem Opfer wie dem Beschuldigten) eine möglichst objektive Aufklärung. Von einer reflexhaften Vorverurteilung sollte ebenso abgesehen werden wie von einer Bagatellisierung der Vorwürfe. Hier sind Sensibilität und Augenmaß gefordert. Erforderlich ist sodann eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall, an deren Ende die Entscheidung über die zu ergreifende Sanktion steht.
Sollte sich ein Verdacht als nachweislich falsch herausstellen, kann eine solche Ermittlung sogar Sanktionen gegenüber dem Beschwerdeführenden erforderlich machen. Denn der Arbeitgeber ist nicht nur dem Beschwerdeführenden, sondern auch dem (dann zu Unrecht) Verdächtigten zum Schutz verpflichtet.
Wie kann ich als Betroffener handeln?
Betroffene Personen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz haben verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Zum einen existiert das Beschwerderecht nach § 84 BetrVG sowie nach § 13 AGG. Diese Vorschriften normieren ein Individualrecht des einzelnen Arbeitnehmenden, sich vor der zuständigen Stelle im Betrieb zu beschweren. Eine Beeinträchtigung muss nicht objektiv gegeben oder schlüssig sein. Ausreichend ist zunächst, dass sich der Arbeitnehmende beeinträchtigt fühlt. Der Beschwerdeführer trägt aber die Beweislast für die von ihm dargelegten Tatsachen. Er kann sich von einem Mitglied des Betriebsrats begleiten lassen.
Wenn der Arbeitgeber keine wirksamen Maßnahmen ergreift, um die betroffene Person zu schützen, kann als Ultima Ratio die Arbeitsleistung bei Fortzahlung des Gehalts verlangt werden. Das Leistungsverweigerungsrecht ist in § 14 AGG gesetzlich verankert. Ein solches besteht allerdings nur, wenn der Arbeitgeber untätig geblieben ist oder die von ihm ergriffenen Maßnahmen offensichtlich ungeeignet sind, um die sexuelle Belästigung zu unterbinden.
(Weiter zu Teil 2: Umsetzung in der Praxis)