Das Thema
Im 1. Teil dieses Beitrags haben wir aufgezeigt, welche arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der sexuellen Selbstbestimmung am Arbeitsplatz zu beachten sind. Hintergrund ist das Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 21.06.2019 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Nun geht es um die Umsetzung in der betrieblichen Praxis. Aus der Beratungspraxis von Dana Hardt zeigen sich eine Vielzahl von Möglichkeiten als geeignet, um eine gelungene Präventionsstrategie im Unternehmen zu implementieren.
Geregeltes Beschwerdeverfahren und Schulungen
Ein geregeltes Beschwerdeverfahren ist eine wichtige Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Vorfällen von sexueller Belästigung. Die Erstellung von Schutzkonzepten, die Leitlinien zum Umgang mit der Thematik beinhalten, ist an dieser Stelle sehr zielführend.
Es ist essenziell, alle Führungskräfte und Funktionsträger regelmäßig zum Thema zu schulen. Insbesondere zum Thema „Gesprächsführung“, um eine Rollenklarheit und selbstbewusstes, konstruktives Verhalten zur Thematik zu erhalten. Auch könnten Schulungen für Mitarbeitende stattfinden, hier vor allem unter dem Aspekt „Gesprächsführung zur Grenzsetzung“ sowie um interne und externe Anlaufstellen bekannter zu machen und auf ggf. vorhandene Leitlinien zu schulen. Zu beachten ist auch, dass der besondere Fall „Grenzüberschreitungen durch externe Bezugspersonen“, wie Kunden, Patienten oder Bürger, hier Bestandteil sein sollte.
Weitere gängige Präventionsmaßnahmen
Anbei eine kurze Zusammenfassung als grober Überblick über weitere gängige Präventionsmaßnahmen:
Einfache Präventionsmaßnahmen
- Beschwerdestelle einrichten, § 13 AGG
- Thematisierung von sexueller Belästigung in Newslettern, Vorträge von externen Partnern bei Personalversammlungen etc.
- Bereitstellung von Informationsmaterial
- Bekanntmachung von Beratungsstellen und enge Zusammenarbeit mit niedrigschwelligen Angeboten, wie psychosoziale Beratung, Sozialberatung, Antidiskriminierungsstelle, Frauennothilfe u.v.m.
- Anlaufstelle für Führungskräfte zum Zwecke der Eigenklärung und Vorbereitung auf Gespräche
Umfassende Präventionsmaßnahmen
- Verpflichtende Schulungen zur Sensibilisierung für das Thema
- Verpflichtende Fortbildungen für Personalverantwortliche
- Konkrete Regelungen im Beschwerdeverfahren etablieren. Transparenz erleichtert Betroffenen den Weg der Beschwerde.
- Betriebsvereinbarung zum Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz abschließen. Hier können konkrete Ansprechpersonen benannt werden und das Beschwerdeverfahren geregelt werden.
- Durchsetzung und Überprüfung der Vereinbarung und Verfahrensregeln
- Umfragen zur Effizienz der Schutzmaßnahmen
Gesprächsführung in der Rolle des Funktionsträgers oder der Führungskraft
Im betrieblichen Alltag zeigt sich, dass Gespräche mit möglicherweise schwer belasteten Personen zu diesem sensiblen Thema eine Herausforderung sein können. Es gilt, den Vorfall möglichst genau aufzuklären und den Betroffenen zugleich möglichst einfühlsam und schützend zu begegnen. Jeder Fall ist individuell und oft haben wir nur einige Puzzlestücke in der Hand, selten das vollständige Bild. Daher sprechen wir eher von der Regel als von der Ausnahme, wenn dem Gesprächsführenden noch einiges auf den vorgetragenen Fall unklar erscheint oder die Person nicht weiß, wer nun im Recht oder Unrecht ist. Die Rolle des Aufklärenden besteht nicht darin, eine „Diagnose“ zu stellen, sondern vielmehr, der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nachzukommen und konsequent zu handeln, sollte ein grenzüberschreitendes Verhalten vorliegen oder hierfür objektive Anhaltspunkte vorliegen.
In der Gesprächsführung geht es im ersten Schritt darum, die Allparteilichkeit des Gesprächsführenden zu wahren. Es sollten in jedem Fall beide Seiten getrennt voneinander angehört werden. Der Aufklärende sollte vorab eine Beratung für sich selbst einholen. Eine solche Situation kommt nicht alle Tage und kann emotional herausfordernd sein. Nach Abschluss der Befragungen sollte der Beschuldigte mit dem konkreten Vorwurf konfrontiert werden und ihm so eine Gelegenheit eingeräumt werden, eine Gegendarstellung abzugeben.
No-Gos im Umgang mit Betroffenen und Tipps für die Praxis
In unserem Berateralltag, in dem es zum einen um die Schulung von Führungskräften zum Thema sexuelle Grenzüberschreitungen geht als auch zum anderen um die Beratung und psychische Unterstützung von Betroffenen, zeigt sich eine Vielzahl von Fällen, in denen unterschiedliche „No Gos“ in der Gesprächsführung eine Rolle spielen. Einige häufiger vorkommende Beispiele werden nachfolgend geschildert.
Schuldumkehr
Ein Beispiel für Schuldumkehr ist der Fall einer Mitarbeiterin aus der öffentlichen Verwaltung. Diese hatte auf einer Internetplattform freizügige Fotos von sich eingestellt und wurde von einem Kollegen entdeckt, der wiederum Kunde dieser Plattform war. Es folgte der Ausdruck der eingestellten Fotos, diese wurden dann im Amt verteilt und mit Schimpfwörtern betitelt, außerdem schrieb der Kollege der Kollegin anzügliche SMS, die diese abblockte und meldete.
Leider wurde im vorliegenden Fall der Kollegin keinerlei Hilfestellung durch den Arbeitgeber oder den Vorgesetzten gegen die Anfeindungen gegeben. Im Gegenteil, es kam zu Aussagen wie „Sie haben es wohl nicht anders gewollt“ und „Wenn Sie sich so zeigen sind Sie selbst schuld, wenn Sie beschimpft werden“. Die Kollegin wurde anschließend von ihrer Stelle als Assistenz an einen abgelegenen Standort „zwangsversetzt“. Der Kollege, der in diesem Fall die Taten ausübte, blieb in seiner alten Position.
Tipps für Praxis:
Verzichten Sie auf Spekulationen, Zuschreibungen und Schuldzuweisungen. Für die Betroffenen wird sexuelle Belästigung dann zum doppelten Nachteil: Ihnen wird ungerechtfertigt eine Mitschuld zugesprochen. Damit werden belästigte Personen davon abgebracht, sich zu wehren. Sie werden ein zweites Mal zum Opfer. Sowohl für Betroffene als auch für Arbeitgeber ist es wichtig zu wissen: Die Verantwortung für belästigendes Verhalten tragen immer diejenigen, die belästigen – niemals die Leidtragenden.
Unternehmenskultur ohne Grenzen
Ein Fall von Parteilichkeit ist u.a. ein Beispiel aus einem größeren Baubetrieb, in dem in der Mehrzahl über Generationen hinweg Vater und Söhne zusammenarbeiten und ein enger Verbund herrscht. In diesem Betrieb war es gang und gäbe, dass Nacktbilder in der Werkstatt hingen und es auch keine Mitarbeiterinnen gab. Als eine Beraterin von einer externen Firma zu einer Schulung beauftragt wurde, ertönten laute Pfiffe über den Hof und im Seminar kam es zu diversen verbalen Übergriffen wie „Ziehen Sie mal Ihr T-Shirt aus, es ist so heiß hier“. Die externe Beraterin meldete dies ihrem eigenen Vorgesetzten und wurde dazu aufgefordert, sich bitte der Firmenkultur des Kunden anzupassen, sie passe sonst einfach nicht zum Kunden.
Tipps für Praxis:
Zu beachten ist, dass sexuelle Grenzüberschreitungen häufig durch Dritte, also Kunden und Kundinnen, ausgeübt werden und so häufig aus Angst, den Kunden zu verlieren, nicht gemeldet werden. Arbeitgeber, die externe Berater einsetzen sind also gut beraten auch für diese Fälle Schutzkonzepte aufzustellen.
Parteilichkeit und fehlende Diskretion
Ein weiterer Fall aus der Kategorie „No-Go in der Gesprächsführung“ stammt aus einem Unternehmen, in dem eine Mitarbeiterin sich über einen Vorgesetzten beschwerte und sich hierfür an den nächsthöheren Vorgesetzten wendete. Sie berichtete, dass ihre Führungskraft immer nachmittags zu ihr ins Büro komme, sich von hinten anschleiche und ihr unter das T-Shirt greife. Wie sicher nachvollziehbar, kostete es die Mitarbeiterin einiges an Überwindung, um den Vorfall überhaupt zu melden, bis dahin hatte sich das Szenario schon einige Male wiederholt. Der nächsthöhere Vorgesetzte schenkte der Mitarbeiterin keinen Glauben und ging noch am selben Abend mit der betroffenen Führungskraft ein Bier trinken, um über die ungeheuerlichen Behauptungen zu berichten und darüber zu informieren, dass die Mitarbeiterin wohl Intrigen spinne.
Tipps für Praxis:
Einer der wichtigsten Parameter einer gelungenen Gesprächsführung ist die Allparteilichkeit gegenüber allen Beteiligten. Wenn es schwerfällt, einen langjährigen Kollegen anzusprechen oder vielleicht sogar ein freundschaftliches Verhältnis besteht, sind Führungskräfte gut beraten sich wieder in die eigene Rolle zurückzubringen und dies z.B. durch den Satz „Heute spreche ich in der Rolle der Führungskraft zu dir und dazu gehört, dass ich mit dir nun Folgendes besprechen muss …“
Fehlende Empathie
Aus der Trainingspraxis wurde ein Fall genannt, der ein passendes Beispiel darstellt, wenn zwar formal alles richtig gelaufen ist, jedoch die Empathie fehlt. Die Führungskraft schilderte ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin, die sich über einen neuen Kollegen beschwerte und mitteilte, dass er sie regelmäßig am Bein berühre und ihr anzügliche Videos schicke. Die Mitarbeiterin zeigte sich sehr emotional in diesem Gespräch und weinte, während sie die Situation schilderte. Die Führungskraft griff zum Leitfaden, der im Unternehmen vorlag, und handelte genau nach Anweisung. Was hierbei jedoch zu kurz kam, war das Zuhören und Eingehen auf die Betroffene. Die Führungskraft verwies immer wieder auf Paragraphen und Rechtsprechung, mit denen die Betroffene in diesem Moment wenig anfangen konnte und sich im Gegenzug dann über die Führungskraft beschwerte und schlecht über das Unternehmen sprach.
Tipps für Praxis:
Es zeigt sich häufig, dass Führungskräfte aus eigener Unsicherheit zu formell werden. Dies führt wie im geschilderten Fall immer wieder dazu, dass sich Betroffene nicht ausreichend abgeholt fühlen. Als Gesprächsführer dürfen Sie natürlich auch mal Ihre eigene Gefühlslage beleuchten, z.B. bereits vor dem Gespräch, wenn es eine Vorbereitungszeit gibt. Optional während des Gesprächs – hier könnten Sie um eine kurze Pause bitten, wenn Ihnen das Gesagte selbst zu nahegeht. Sie könnten das Gespräch um eine Stunde vertagen, um sich kurz zu sammeln. Oder Sie kennzeichnen verbal, dass die Situation auch für Sie gerade nicht einfach ist, Sie betroffen macht. Durch das Aussprechen der eigenen Gefühlslage ist der „Elefant im Raum“ einmal klar auf dem Tisch und der/die Betroffene muss nicht noch die vorgeschobenen Formalien als fehlende Empathie aufnehmen.
Stereotypen unterliegen
Ein Beispiel für stereotype Denkweise stellt der Fall eines jungen Azubis dar, der von seiner Ausbildungsleiterin jeden Morgen mit einem Wangenkuss begrüßt wurde und regelmäßig Einladungen der Ausbilderin zur ihr nach Hause abwehren musste. Dies tat er seinem Chef kund und erntete prompt die Antwort, dass er doch hier sicher etwas missverstehen müsse, die Ausbilderin sei sehr beliebt im Haus und hoch engagiert, bisher gab es keine Vorfälle dieser Art und er solle sich nicht so anstellen, nur weil eine ältere Dame wohl mütterliches Interesse an ihm habe. Dies solle er im Zweifel doch als Kompliment sehen. Der Azubi verließ daraufhin freiwillig seine Lehrstelle.
Tipps für Praxis:
In der Beratungspraxis zeigen sich auch immer wieder Fälle, in denen Männer unter sexueller Belästigung zu leiden haben. Diese werden häufig nicht ernst genommen oder die Führungskraft hat den Mann als potenzielles Opfer nicht im Blick. Zu beachten ist stets, dass alle Geschlechter von sexueller Belästigung betroffen sein können und insbesondere Männer sich schwertun, solche Fälle zu melden.
Was sollte ich bei einem Gespräch mit Betroffenen beachten?
Um nicht selbst den oben genannten Fallstricken zu unterliegen, zeigen wir nachfolgend einige konstruktive Parameter auf, die zu einer zielführenden und vertrauensvollen Gesprächsführung beitragen können.
Phase 1: Vor dem Gespräch
- Ruhe: Sorgen Sie für geschützten Raum und eine ungestörte Gesprächsatmosphäre ohne Zeitdruck.
- Vertraulichkeit und Transparenz: Erklären Sie, welche Stellen ggf. hinzugezogen werden müssen.
- Rollenklarheit: Thematisieren Sie Ihre eigene Rolle und Schutzpflicht gegenüber allen Mitarbeitenden.
Phase 2: Während des Gesprächs
- Nehmen Sie das Gesagte auf und zeigen Sie durch Körpersprache und Mimik, dass Sie zuhören und das Gesagte ernst nehmen.
- Bedenken Sie, dass es einen Unterschied gibt zwischen zuhören und zustimmen. In diesem ersten Gespräch geht es zunächst ausschließlich um das Zuhören und Aufnehmen. Es geht nicht darum das Gesagte zu bewerten, sondern empathisch aufzunehmen ohne ein Urteil zu fällen.
- Bleiben Sie in Ihrer Rolle, gewähren Sie Allparteilichkeit und geben Sie beiden Parteien die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Vorfälle zu schildern – völlig unabhängig davon, was Sie selbst darüber denken oder welche Meinung Sie sich ggf. schon im Vorfeld gefertigt haben.
- Lassen Sie Gefühle der betroffenen Person zu, halten Sie möglicherweise auftretende Gesprächspausen aus. Verweisen Sie ggf. bei Bedarf an psychosoziale Fachstellen.
- Geben Sie Transparenz zu Ihren nächsten Schritten und beziehen Sie die betroffene Person in Ihre Gedanken und in den weiteren Prozess ein. Holen Sie sich das Einverständnis ein, insbesondere bei Einbeziehung Dritter.
- Vereinbaren Sie ein Folgegespräch und stellen Sie einen verbindlichen Zeitraum für weitere Schritte in Aussicht.
Phase 3: Nach dem Gespräch
- Halten Sie Absprachen ein.
- Bearbeiten Sie den Fall zeitnah und geben Sie ebenso zeitnah Rückmeldung zum Ergebnis. Kommunizieren Sie alle Schritte und auch ggf. Verzögerungen transparent.
- Schützen Sie Betroffene durch vorübergehende Freistellung oder Versetzung bis zur endgültigen Klärung des Vorfalls. Sollte das nicht möglich sein: Sorgen Sie dafür, dass die betroffene Person am Arbeitsplatz nicht mit der beschuldigten Person allein sein muss.
- Sich beschwerenden Personen und etwaigen Zeugen darf kein Nachteil aus der Beschwerde entstehen!
(Siehe auch: Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Ein Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte)
Fazit
Sexuelle Grenzüberschreitungen sollten nicht als Problem von Einzelpersonen, sondern als Herausforderung des gesamten Unternehmens verstanden werden. Sie schaden der Stimmung und der Produktivität der Beschäftigten. Folgen von sexueller Grenzüberschreitung können u.a. Symptome wie Ärger und Aggressionen, Schlaflosigkeit, Verleugnung und Scham, Angst und Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühl und/oder Verlust des Selbstvertrauens sein. All dies kann in der Folge zu längeren Ausfallzeiten und Arbeitsunfähigkeit führen.
Psychische Erkrankungen können die Folge sein und befinden sich aktuell unter den Top 3 der Arbeitsunfähigkeitstage. Betroffene sind häufig weniger leistungsfähig, können sich schlechter konzentrieren und kündigen im schlimmsten Fall am Ende sogar selbst. Die Arbeitgeber büßen an Reputation ein und erleiden möglicherweise einen irreparablen Imageschaden. Das Thema sexuelle Grenzüberschreitungen sollte somit nicht rein auf der individuellen Ebene betrachtet werden, sondern auch auf Unternehmensebene Berücksichtigung finden.