Das Thema
Nach dem Wortlaut des Urteils vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23) geht das BAG zwar nach wie vor von einem „hohen Beweiswert“ der AU-Bescheinigung aus, zu dessen Erschütterung es aber nicht mehr viel bedarf.
Sachverhalt
Die Beklagte, ein Leiharbeitgeber, beschäftigte den Kläger seit Anfang März 2021. Er erhielt einen Bruttostundenlohn von 10,88 Euro und arbeitete 35 Stunden pro Woche. Seit dem 21.04.2022 wurde der Kläger von der Beklagten nicht mehr eingesetzt.
Am 02.05.2022 legte der Kläger eine ärztliche AU-Bescheinigung für die Zeit vom 02. bis 06.05.2022 vor. Dieser Bescheinigung lag – wie im Laufe des Verfahrens offenbar wurde – die Diagnose ICD-10-Code J06.9 (Nicht näher bezeichnete akute Infektion der oberen Atemwege) zugrunde.
Am selben Tag der Einreichung der AU-Bescheinigung, dem 02.05.2022, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 31.05.2022. In einer späteren ärztlichen Folgebescheinigung vom 06.05.2022 bescheinigte der ausstellende Arzt dem Kläger Arbeitsunfähigkeit bis zum 20.05.2022, gefolgt von einer weiteren AU-Bescheinigung bis zum 31.05.2022. Beiden weiteren Bescheinigungen lag die Diagnose ICD-10-Code R45.7 (Nicht näher bezeichneter emotionaler Schock oder Stress) zugrunde.
Am Folgetag nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, dem0 1.06.2022, war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm ein neues Beschäftigungsverhältnis auf.
Die Beklagte lehnte die Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 01. bis 31.05.2022 mit der Begründung ab, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert. ArbG und LAG sahen dies nicht so, sondern bejahten die Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung für den gesamten Zeitraum.
Entscheidung
Das BAG sah den Beweiswert der ersten AU-Bescheinigung nicht als erschüttert an – den der zweiten und dritten Bescheinigung hingegen schon. Letztlich bejahte das BAG nur die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum bis zum 06.05.2022.
Der Kläger habe bei der Vorlage der ersten AU-Bescheinigung nichts von der Kündigung gewusst. Zwischen der Kündigung und der Bescheinigung bestand somit keine zeitliche Koinzidenz. Weitere Anhaltspunkte für eine Erschütterung sah das BAG nicht.
Anders sah das BAG dies jedoch bei der zweiten AU-Bescheinigung. Dabei stellte das Gericht in seiner Würdigung des Sachverhalts maßgeblich auf einen einzelnen Umstand ab, der die Beweiskraft erschütterte – die in den Bescheinigungen vom 06. und 20.05.2022 angenommenen Dauer der voraussichtlichen Arbeitsunfähigkeit. Diesem Indiz entnahm das BAG in der Würdigung in die folgenden Aspekte:
1. Passgenaue Krankheitsdauer
Zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist habe eine zeitliche Koinzidenz bestanden. Die zunächst für den Zeitraum vom 02. bis 06.05.2022 bescheinigte Arbeitsunfähigkeit wurde nach Zugang der Kündigung vom 02.05.2022 durch den Arzt am 06.05.2022 zunächst unter Ausschöpfung der Zweiwochenfrist des § 5 Abs. 4 Satz 1 Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie a.F. und am 20.05.2022 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.05.2022 verlängert.
2. Abweichen der Dauer der letzten AU-Bescheinigung von den vorherigen Bescheinigungen
Bei der Würdigung dieses Sachverhalts sei zudem zu berücksichtigen, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit in den Bescheinigungen vom 02.05.2022 und vom 06.05.2022 jeweils bis zu einem Freitag erfolgte, während in der Bescheinigung vom 20.05.2022 die Arbeitsunfähigkeit bis Dienstag, den 31.05.2022 – und damit nicht bis zum Ende der Woche, sondern stattdessen exakt bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses – attestiert wurde.
3. Aufnahme neuer Beschäftigung nach Ende der Kündigungsfrist
Als weiteres Indiz sah das BAG, dass der Kläger am 01.06.2022 – also einen Tag nach Ende seiner Kündigungsfrist – eine neue Beschäftigung aufnahm.
Praxishinweise
Das BAG hat mit der vorliegenden Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zur Darlegungs- und Beweislast bei AU-Bescheinigungen – insbesondere im Zusammenhang mit einer Kündigung – weiterentwickelt (vgl. zum Thema bspw. auch die EFAR-Beiträge „Kranke dürfen Bahnfahren – Neues zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“, „Entgeltfortzahlung – Erschütterter Beweiswert der AU-Bescheinigung“ und „‚Ich bin dann mal weg‘: Wenn Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gleichzeitig kommen“). Von dem „hohen Beweiswert“, von dem das BAG auch in dieser Entscheidung noch spricht (Rz. 12; vgl zu den Schwächen dieses Begriffs Uffmann, NZA 2024, S. 217) bleibt letztlich nicht mehr viel übrig.
Nach der insoweit präzisierten Rechtsprechung kann bereits ein einzelnes Indiz – wenn auch unterschiedliche Aspekte desselben – ausreichen, um den Beweiswert von AU-Bescheinigungen zu erschüttern. Vor dem Hintergrund schwindender Erkenntnismöglichkeiten aufgrund elektronischer AU-Bescheinigungen sind dies zumindest gute Nachrichten für Arbeitgeber.
Daran ändern im vorliegenden Fall auch die zugunsten des Arbeitnehmers bzw. gegen die Richtigkeit der AU-Bescheinigungen sprechenden Indizien nichts. Die Urheberschaft des Arbeitgebers für die Kündigung, die tatsächlich fortbestehende Beweiskraft der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02.05.2023 sowie die damals noch gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, AU-Bescheinigungen nach telefonischer Rücksprache auszustellen, konnten aus Sicht des BAG die Zweifel des Arbeitgebers an der Richtigkeit der Bescheinigungen nicht entkräften.
Arbeitgeber, die Zweifel an der Richtigkeit von AU-Bescheinigungen haben, können durch diese Entscheidung eine gewisse Rückendeckung für ein konsequentes Vorgehen erhalten. Eine Erschütterung des Beweiswerts kann im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch dann angenommen werden, wenn gegenteilige Indizien vorliegen. An die Anzahl und das Gewicht der Indizien, die für die Erschütterung sprechen, werden keine besonders hohen Anforderungen gestellt. Auch wenn der 5. Senat des BAG in seinen jüngeren Entscheidungen zunehmend von einer Erschütterung des Beweiswerts auszugehen scheint (vgl. zuletzt Urt. v. 28.06.2023 – 5 AZR 335/22 und Urt. v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21; dazu der EFAR-Beitrag „Keine Entgeltfortzahlung bei mehr als sieben Tagen Fieber? Folgen einer falsch ausgestellten AU-Bescheinigung“), sollten zumindest in den Fällen, in denen unrichtige AU-Bescheinigungen zur Grundlage einer (außerordentlichen) Kündigung gemacht werden sollen, alle Alternativen sorgfältig geprüft werden.