Das Thema
Grundsätzlich gilt nach § 326 Abs. 1 S.1 BGB der Grundsatz: „Ohne Arbeit kein Lohn“. Liegt der Grund für die unterbliebene Arbeitsleistung aber in einer unverschuldeten, krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, so erhält der § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers aufrecht. Der Arbeitnehmer beweist das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch Vorlage einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung). Dieser Anscheinsbeweis kann, unter bestimmten Voraussetzungen, durch den Arbeitgeber erschüttert werden.
Mit dieser Thematik befasst sich auch das LAG Mecklenburg-Vorpommern in seiner Entscheidung vom 13.7.2023 (Az. 5 Sa 1/23). Dabei äußerte es sich zu dem Beweiswert einer AU-Bescheinigung, die einen Zeitraum gegen Ende der Kündigungsfrist betraf und zum Urlaubsbeginn des Erkrankten endete, sowie der Frage, ob eine zehnstündige Bahnreise des Erkrankten Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen kann. Dieses Urteil setzt damit die vielfältige Rechtsprechung zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung fort.
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besitzt grundsätzlich besonders hohen Beweiswert
In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Fall machte ein Chefarzt einen Entgeltfortzahlungsanspruch nach §§ 3 Abs. 1 S.1, 4 Abs. 1 EFZG für einen Zeitraum von zwei Wochen geltend. Dabei konnte der Arbeitgeber den Beweiswert der vorgelegten AU-Bescheinigung nicht erschüttern, weswegen das stattgebende Urteil der Ausgangsinstanz (ArbG Stralsund Urt. v. 29.11.2022 – 2 Ca 151/22) aufrechterhalten wurde.
Dabei betonte das nunmehr entscheidende Landesarbeitsgericht, dass der AU-Bescheinigung, als gesetzlich ausdrücklich vorgesehenem (§§ 5 Abs. 1 S.2, 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG) und insoweit wichtigsten Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, ein hoher Beweiswert zukomme. Der Beweiswert sei erst dann erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers belastbare Tatsachen vorhanden seien, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen.
Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber die Krankheitsdiagnosen regelmäßig nicht kenne. Bekannt sei dem Arbeitgeber jedoch die jeweils geschuldete Arbeitsleistung, nach der sich bestimmt, ob ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist oder nicht. Die zu erbringenden Arbeitsaufgaben seien maßgeblich dafür, ob bestimmte Aktivitäten des Arbeitnehmers Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wecken, also implizieren, dass er tatsächlich arbeitsfähig ist.
Zweifel an der Richtigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können entstehen
Zwar könnten sich Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung auch aus zeitlichen Zusammenhängen ergeben. Dies sei der Fall, wenn der Arbeitnehmer zeitgleich mit seiner Kündigung eine solche AU-Bescheinigung einreicht, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abbildet. (Anm. d. Redaktion: Das LAG Schleswig-Holstein (Urt. v. 02.05.2023 – 2 Sa 203/22; Pressemitteilung des LAG Schleswig-Holstein v. 23.06.2023) hat in Auseinandersetzung mit der Entscheidung des BAG vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in einer Gesamtbetrachtung ähnlicher Indizien als erschüttert angesehen.)
Jedoch bedürfe es zur Erschütterung des Beweiswertes noch weiterer hinzutretender Umstände. Es reiche aber nicht schon aus, dass diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Denn in der Ablösungsphase möge zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen, Krankheiten könnten jedoch auch in einem gekündigten Arbeitsverhältnis auftreten.
(Anm. d. Redaktion: Ist ein Beschäftigter bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben, erschüttert das ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch dann nicht, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar am darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt. Das hat das LAG Niedersachsen in einem Urteil vom 8.3.2023 (Az. 8 Sa 859/22; Pressemitteilung vom 4.7.2022) ausgeführt – vgl. #EFAR-News vom 6. Juli 2023).
Krankheit steht einer Bahnfahrt nicht entgegen
Auch unternahm der Kläger zu Beginn seiner Krankheit eine zehnstündige Bahnfahrt (1. Klasse) um seine Hausärztin an seinem Familienwohnsitz aufzusuchen. Die Beklagte bestritt damit die tatsächliche Erkrankung des Klägers: wer zehn Stunden mit der Bahn fahren könne, der könne nicht krank sein.
Im Hinblick auf die vorgebrachte Krankheitsdiagnose (u.a. Hypertonie, Kopfschmerzen und HWS-Syndrom) bestand nach Ansicht des LAG aber kein Grund eine längere Bahnfahrt zu vermeiden. Eine Bahnfahrt erfordere ferner – im Vergleich zu einer Chefarzttätigkeit – weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen. Auch könne eine bequeme Körperhaltung eingenommen werden und man könne sich bei Bedarf etwas bewegen.
An Erschütterung bleiben hohe Anforderung geknüpft
Das LAG bleibt mit diesem Urteil der bisherigen Rechtsprechung treu, die einer ärztlichen AU-Bescheinigung einen hohen Beweiswert zuspricht. Danach liegt zwar kein Fall einer gesetzlichen Vermutung gem. § 292 ZPO vor, wonach das tatsächliche Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit nur durch den Beweis des Gegenteils entkräftet werden könnte. Nichtsdestotrotz wirkt die AU-Bescheinigung wie eine tatsächliche Vermutung im Sinne eines Anscheinsbeweises, so dass der Arbeitgeber den Anscheinsbeweis der AU-Bescheinigung erschüttern muss, wenn er keine Entgeltfortzahlung leisten möchte.
Der Arbeitgeber kann den Beweiswert einer AU-Bescheinigung dabei nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt bzw. beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen, so dass der AU-Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
Dass die Krankschreibung einen Zeitraum gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft, spricht jedenfalls nicht allein deshalb gegen eine Arbeitsunfähigkeit. Ebenso lässt sich nicht per se aus einer längeren Bahnreise schlussfolgern, dass keine Krankheit vorliegen könnte.