Das Thema
Im Rahmen von Restrukturierungen und (größeren) Personalabbauten ist regelmäßig die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit (“Schon wieder neue Formulare”) erforderlich. Die konkreten Schwellenwerte ergeben sich aus § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG. Auf Arbeitgeberseite sorgt die Verpflichtung zur Anzeige regelmäßig für großes Unbehagen, da eine unrichtige oder verspätete Anzeige auf die individualrechtliche Ebene durchschlägt und die Wirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen gefährdet. Gerade die zeitliche Taktung der Anzeigeerstattung im engen Korsett von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen und/oder Konsultationen mit dem Betriebsrat einerseits und der rechtzeitigen Zustellung der Kündigungen andererseits ist mitunter eine Frage von Stunden oder wenigen Tagen.
Mit der „Junk“-Entscheidung hat der EuGH (Urt. v. 27.1.2005 – C-188/03) bereits vor geraumer Zeit klargestellt, dass eine Kündigung nur erfolgen darf, wenn die Massenentlassungsanzeige bereits bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Wird die Kündigung vor Eingang der Massenentlassungsanzeige erklärt, ist sie unwirksam.
In einer neueren Entscheidung hat sich das BAG (Urt. v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18) nunmehr mit der Frage beschäftigt, ob Arbeitgeber Kündigungen bei Massenentlassungen bereits unterschreiben dürfen, bevor die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist. Diese Frage wurde durch eine vielbeachtete und kritisch diskutierte Entscheidung des LAG Baden-Württemberg als Vorinstanz aufgeworfen, welche für erhebliche Rechtsunsicherheit in der Praxis gesorgt hatte. Im Ergebnis hat das BAG ausweislich der vorliegenden Pressemitteilung die Entscheidung des LAG wieder aufgehoben und bestätigt, dass die Kündigungen bereits vor Erstattung der Anzeige unterzeichnet und sogar versandt werden dürfen. Lediglich der Zugang der Kündigungsschreiben dürfe erst nach Zugang der Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur erfolgen.
Der Fall: Massenentlassungsanzeige und Kündigung am gleichen Tag
Mit Beschluss vom 1. Juni 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Beklagte verhandelte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich über die Betriebsstilllegung und erstellte eine Massenentlassungsanzeige betreffend die Entlassung aller noch beschäftigten Arbeitnehmer. Die Massenentlassungsanzeige ging mit dem beigefügtem Interessenausgleich am 26. Juni 2017 bei der Agentur für Arbeit ein. Mit Schreiben vom selben Tag kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ebenso wie die Arbeitsverhältnisse der anderen 44 zu diesem Zeitpunkt noch beschäftigten Arbeitnehmer ordentlich betriebsbedingt zum 30. September 2017. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 27. Juni 2017 zu.
Der Kläger machte mit seiner Kündigungsschutzklage unter anderem geltend, dass nach der Rechtsprechung des EuGH der Arbeitgeber seiner Anzeigepflicht bereits vor einer Entscheidung über die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachkommen müsse. Daher dürfe die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben erst erfolgen, nachdem die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Im vorliegenden Fall habe der Beklagte die Kündigung demnach zu früh, nämlich vor Eingang der Massenentlassungsanzeige, unterzeichnet, weshalb die Kündigung unwirksam sei.
LAG Baden-Württemberg sorgt (zunächst) für Rechtsunsicherheit
Nachdem das Arbeitsgericht Mannheim (Urt. v. 27.11.2017 – 11 Ca 219/17) die Kündigungsschutzklage abgewiesen hatte, gab das LAG Baden-Württemberg (Urt. v. 21.08.2018 – 12 Sa 17/18) dem klagenden Arbeitnehmer überraschend Recht. Die Kündigung sei nach § 134 BGB i.V.m. § 17 Abs. 1 KSchG unwirksam, da nicht festgestellt werden könne, dass der Insolvenzverwalter die Kündigung erst nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit ausgesprochen habe.
Ein Arbeitnehmer dürfe nach § 17 Abs. 1 KSchG jedoch erst entlassen werden, wenn die Massenentlassungsanzeige zuvor bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Der Begriff der „Entlassung“ sei europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass er die Kündigungserklärung des Arbeitgebers meint. Die Anzeige müsse die Agentur für Arbeit demnach erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung treffe, was sich in der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens manifestiere.
Massenentlassungsanzeige verfolgt ausschließlich beschäftigungspolitische Zwecke – BAG korrigiert als LAG
Die Revision des Beklagten vor dem BAG war erwartungsgemäß erfolgreich und führte zur Zurückweisung des Rechtsstreits an das LAG. Die Urteilsbegründung selbst liegt (Stand: 23. Juni 2019) noch nicht vor. In seiner Pressemitteilung vom 13. Juni 2019 weist das BAG jedoch in zu begrüßender Deutlichkeit darauf hin, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, Massenentlassungen der Agentur für Arbeit anzuzeigen, allein beschäftigungspolitische Zwecke verfolge: Die Agentur für Arbeit solle rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Den Willensentschluss des Arbeitgebers zur Kündigung „kann, soll und will“ die Agentur für Arbeit hingegen nicht beeinflussen. Das Anzeigeverfahren sei streng von dem Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat zu trennen.
Demnach ist der Arbeitgeber bei Bestehen eines Betriebsrats zwar nach § 17 Abs. 2 KSchG verpflichtet das Konsultationsverfahren durchzuführen, das heißt im Vorfeld der Entlassungen mit dem Betriebsrat die Möglichkeiten zu beraten, wie Entlassungen vermieden oder ihre Folgen abgemildert werden können. Erst nach Abschluss des Konsultationsverfahrens kann der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige einreichen. Die Agentur für Arbeit wirkt – anders als der Betriebsrat – jedoch nicht auf die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers selbst ein, sondern sorgt vielmehr dafür, dass der Schaden für den Arbeitsmarkt aufgrund der Entlassungen möglichst gering bleibt. Zudem wird das Konsultationsverfahren in der Regel abgeschlossen sein, wenn der Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige abschickt.
Daher sei es zulässig, dass der Arbeitgeber – was in der Praxis auch der absolute Regelfall sein wird – bei Einreichung der Massenentlassungsanzeige bereits zur Kündigung fest entschlossen sei und die Kündigungserklärungen zwar unterschrieben, aber noch nicht an die Arbeitnehmer übergeben habe. Selbst ein Absenden der Kündigungserklärung wäre demnach nicht zu beanstanden, solange nur die Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur eingeht, bevor die Kündigungen den Arbeitnehmern zugehen.
Restrisiko: Keine Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH
Ein letztes Restrisiko hinsichtlich der Endgültigkeit der vom BAG aufgestellten Grundsätze folgt daraus, dass das BAG die Rechtsfrage nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Da die Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG auf der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (98/59/EG) beruhen, hat in derartigen Auslegungsfragen der EuGH das letzte Wort.
Das BAG war gemäß Pressemitteilung jedoch der Auffassung, dass die maßgeblichen Rechtsfragen durch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie bereits abschließend geklärt seien. Einer erneuten Vorlage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV bedürfe es daher nicht.
Damit kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der EuGH zukünftig doch noch eine abweichende Auffassung vertreten wird, wenn ihm ein vergleichbarer Fall vorgelegt werden sollte.
BAG beseitigt Unsicherheiten für die Restrukturierungspraxis
Das Urteil des BAG ist in jeder Hinsicht zu begrüßen. Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg war juristisch wenig überzeugend und führte in der Praxis zu erheblicher Unsicherheit. Im Rahmen von Restrukturierungsmaßnahmen müssen Kündigungsschreiben oft zeitgleich mit der Massenentlassungsanzeige vorbereitet werden. Dies ist in der Regel sowohl dem bestehenden Zeitdruck als auch der Tatsache geschuldet, dass mitunter hunderte Kündigungsschreiben von mehreren Personen unterzeichnet werden müssen, die nicht immer durchgehend im Betrieb anwesend sind.
Das Urteil des BAG wird in der Praxis die nach der Entscheidung der Vorinstanz aufgekommene Unruhe wieder beseitigen. Nunmehr ist ausdrücklich klargestellt, dass der Arbeitgeber die Kündigungserklärungen bereits vor Absenden der Massenentlassungsanzeige unterschrieben „in der Schreibtischschublade“ aufbewahren und sogar schon versenden darf.
Massenentlassungsanzeige – Was es dennoch zu vermeiden gilt
In jedem Fall vermieden werden sollte jedoch, dass dem zu kündigenden Mitarbeiter die Kündigungserklärung vor Eingang der Massenentlassungsanzeige zugeht. Zudem bleibt zu berücksichtigen, dass das BAG bei der Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie den EuGH nicht um eine Vorabentscheidung ersucht hat.
Nicht auszuschließen ist daher, dass einzelne erst- bzw. zweitinstanzliche Gerichte, insbesondere auch das LAG Baden-Württemberg in dem zurückverwiesenen Rechtstreit, die Frage doch noch einmal dem EuGH vorlegen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund zweier diametral entgegenstehender Entscheidungen des LAG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 25.4.2019 – 21 Sa 1534/18 und v. 9.5.2019 – 18 Sa 1449/18), sodass die weitere Entwicklung noch abzuwarten bleibt.
Vorsichtigen Arbeitgebern ist daher nach wie vor zu raten, nach Möglichkeit die Massenentlassungsanzeige vor Unterzeichnung der Kündigungsschreiben zu erstatten und bei einer zwingenden engeren Taktung die einzelnen Schritte zeitlich genau zu dokumentieren, da die Beweislast für die rechtzeitige Erstattung der Massenentlassungsanzeige beim Arbeitgeber liegt.
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